Eine Giftschlange

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Ein Beitrag von E. Düchting aus 1921.

Hast du schon die sogenannte Laokoongruppe gesehen? — Es ist das eine Marmorgruppe, die das traurige Schicksal des trojanischen Priesters Laokoon und seiner beiden Söhne darstellt. Zwei Schlangen umschlingen die Gruppe und haben sich mit ihren Giftzähnen festgebissen. Mit aller Macht suchen die drei Opfer sich von der Umklammerung zu befreien; die Muskeln sind gespannt, Entsetzen und Verzweiflung spricht aus ihren Mienen; denn vergebens ist ihre Anstrengung. Laokoon versucht zwar noch mit letzter Kraft die Schlangenleiber wegzureißen. Aber umsonst! Vater und Söhne enden in Jammer und Tod.

Zwei Giftschlangen umschlingen heute den Leib der christlichen Jugend. Sie haben sich festgebissen und spritzen nun das schädliche Gift des Verbrechens und der Unsittlichkeit in die reine jugendliche Seele. Es sind die Schundliteratur und das Kino. Heute wollen wir uns die Giftschlange der Schundliteratur etwas näher ansehen.

Schund? Was sind Schundbücher? Es sind solche Bücher, „die das Gefühl und den Wirklichkeitssinn verwirren und den Geschmack für gesunde und wertvolle Bücher vernichten, die das sittliche Urteil und die Phantasie verwüsten.“ Sie wollen die Nachtseiten und Schattenseiten des menschlichen Lebens aufdecken; sie sind darum schlecht - billig.

Das Schlechte aber suchen sie nach außen zu verbergen. Wie die Giftschlangen haben sie ein glänzendes, in die Augen stechendes Gewand, um die Leser anzulocken und über ihren schlechten Inhalt hinwegzutäuschen. Grellbunte oder in Schwarzdruck gehaltene Titelbilder, die Fesselungen, Schlägereien, Verfolgungen, greuliche Kriegsbilder und sentimentale Liebesszenen darstellen und die jugendliche Einbildungskraft oder Phantasie anregen und spielen lassen, und die abenteuerlich und kriegerisch aufreizenden Titel üben eine gewaltige Anziehungskraft aus und betäuben in der Regel die Vernunft.

In ihnen aber werden die „großen“ Taten der Verbrecher und Verbrecherinnen geschildert und verherrlicht. Besonders gern werden die Schreckensszenen genommen. So hat „Der Scharfrichter von Berlin“ auf den ersten 240 Seiten 12 ausführlich geschilderte Schand- und Greueltaten, darunter eine ungerechte Hinrichtung, einen Kinderraub, einen Vatermord, einen Ehebruch, einen versuchten Giftmord, eine Leichenberaubung, einen Aufruhr, das Treiben einer Falschmünzerbande usw. Man kann diese Schundliteratur nun in verschiedene Klassen einteilen. Da haben wir zunächst die Detektivgeschichten wie Nick=Carter, Sherlock Holmes usw., dann die Abenteurergeschichten wie „Schinderhannes“, „Rinaldo Rinaldini“, „Der Scharfrichter von Berlin“, „Heinz Brandt, der Fremdenlegionär“ „Horst Kraft, der Pfadfinder“ „Der Luftpirat“ u. a., ferner die Indianergeschichten wie „Buffalo Bill“, „Texas Jack“, „Wild-West=Bibliothek“ u. a., endlich die Kriegsgeschichten wie „Konrad Hölz, der Wandervogel“, „Spion“, „Im Kugelregen“, „Kriegsfreiwillig, Erlebnisse eines Primaners“, „Krieg und Liebe“ u. a. Es sind nur Blut= und Schauergeschichten aus anderen Weltteilen und aus den „heldenmütigen Kämpfen“.

Doch die „Heldentaten“ kann ein Heft nicht fassen, deshalb erscheint eine ganze Reihe von Heften, in denen am Ende des Heftes ganz unvermittelt in einer aufregenden Szene, in einem neuen spannenden Abenteuer abgebrochen wird. Manchmal sogar mitten im Satze. Da muß das folgende Heft gekauft werden, die Neugierde läßt keine Ruhe, zumal die Einzelhefte nur 10 oder 20 Pfg. kosten.

Ich weiß, daß du gern liest. Schon als Kind hast du alles, was dir in die Finger kam, gelesen, waren es abgerissene Zeitungsblätter, Aufschriften auf Tüten, oder waren es Firmenschilder. Du hast solange buchstabiert, bis du es glücklich heraus hattest, und dann hast du es freudestrahlend deinen Eltern, den Geschwistern, den Bekannten vorgelesen, um mit deiner Lesekunst zu prahlen. Jetzt aber hat dich die Lesewut gepackt, so daß du jeden freien Augenblick mit Lesen der Schundbücher zubringst. In der Elektrischen, in der Eisenbahn, zu Hause, in der Werkstatt, auf der Arbeitsstätte, kurz in jeder Ecke und zu jeder Zeit lasest du. „Wie verrückt“ hast du bis tief in die Nächte hinein über dem Schund gesessen, bis dir vor Müdigkeit die Augen zufielen. — Nicht einmal, zwei=, drei=, fünf= und sechsmal hast du ein solches Buch, ein solches Heft gelesen, nein „verschlungen“. Wie dir ging und geht es Hundert, Tausend, Millionen anderen. Das siehst du daran, daß es in Deutschland allein 8000 Kolportagebuchhandlungen und 43 000 Kolporteure geben soll. Deutschland gibt nach Schätzung 50 Millionen Mark für diese Schundbücher aus. Du kannst dir also schon eine Vorstellung machen, was die Schreiber, Verleger und Vertreiber dieser Schundhefte verdienen. So hatte z. B. der Verleger, des „Scharfrichters von Berlin“, der in 2 200 000 (!) Exemplaren verbreitet wurde, einen Verdienst von 1½ Million Mark. Ein anderer verdiente an dem Roman „Karl Henrik Pikard, genannt Fetzer, der größte deutsche Räuberhauptmann des 19. Jahrhunderts“, von dem 600000 Stück abgesetzt wurden, 40 000 Mark.

All dies Geld wird nur für Schund, für Gift ausgegeben. Vielleicht haben auch Pfennige, deine Marken zu dieser großen Summe etwas beigetragen. Vielleicht deine auch dich die Giftschlange umfaßt und sich festgebissen, um dir das verderbliche hat einzuspritzen. Reiße dich los! Mache dich frei von dieser Giftschlange, ehe es zu Gift ist. Damit es dir nicht ergeht wie Laokoon und seinen beiden Söhnen. spät Von den verderblichen Folgen des Schlangenbisses will ich dir ein ander Mal erzählen.

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